Mädchenbildung

Wie die Mädchen zu ihrer Bildung kamen


von Petra Zellhuber-Vogel
Wissen macht mächtig

»Wissen ist Macht«(Karl Liebknecht) und Bildung der Schlüssel zu wirtschaftlicher Unabhängigkeit, Selbständigkeit und Selbstbestimmung und somit für Mitsprachemöglichkeiten in allen gesellschaftlichen Bereichen. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde durch den Ausbau des Schulsystems und staatliche Regelungen im Zertifikatswesen der Zugang zu Macht- und Schlüsselpositionen zunehmend auch über das Bildungswesen geregelt. Wer vom Bildungswesen ausgeschlossen blieb, konnte kaum Einfluss nehmen.

„Wehret den Anfängen...„

Zahlreiche Frauen haben sich im 19. Jahrhundert vehement für eine breite Etablierung des höheren Mädchenschulwesens eingesetzt. Oftmals wurde Frauen in dieser Zeit abgesprochen, dass sie über­haupt die notwendige Intelligenz für eine entsprechende Bildung hätten. Jahrzehntelang wurde die Schrift des Arztes Paul Möbius »Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes« als Beweismittel von Männern für die angeblich geringe geistige Kapazität von Frauen angeführt. Insbesondere in Universitätskreisen wurde noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts immer wieder dieses Werk in Anspruch genommen, um zu verhindern, dass Frauen an der Universität zugelassen wurden.

Es fehlte auch nicht an Ratschlägen, wie Männer sich gegenüber denkenden und argumentierenden Frauen verhalten sollten: »Denn kommt sie mit Gründen, da soll er taub sein, denn sie sind seine Sache« (Erdmann 1852, S. 100).

„Drum prüfe, wer sich ewig bildet ...“

Ein zweiter Strang der Auseinandersetzung galt den Zielen und Inhalten der Mädchenbildung. Solange sie dazu dienten, die Abhängigkeit und Unmündigkeit der Frauen fortzuschreiben (vgl. Pfister, 5. 19), war der Widerstand weit geringer. »Schusterin bleib bei deinem Leisten« war die anfängliche Devise in der Mädchenbildung und bedeutete Reproduktion für die im Haus notwendigen Fähigkeiten. Auch in Reutlingen befürchtete man, dass zuviel »geistige« Bildung die Mädchen verderben könnte. Dagegen stellte sich einer der Gründer der »Höheren Töchterschule«, F. Kleemann, in einem Zeitungsartikel im Jahre 1845: »Es ist hier ... die passende Stelle, öffentlich gegen ein Vorurteil anzutreten ... ‚ dass nämlich die Töchterschule bei den Mädchen den Sinn für das häusliche erstickt, zu hohe Ansprüche genährt, eine Untauglichkeit für ihren künftigen Beruf in der Haushaltung herbeigeführt, eine Unzufriedenheit ‚mit ihrer Lage hervorgebracht werde ... « (Hervorhebung durch die Verf.; P.Z.; Quelle 1845, zitiert in: IKG, S. 39).

„Geld regiert die Welt“

Wie so oft in unserer Frauengeschichte spielte letztendlich auch die finanzielle Seite eine Rolle bei der Fortschreibung des Mädchenschulwesens. Zum einen veränderte sich die wirtschaftliche Situation im Bürgertum teilweise so sehr, dass unverheiratete Töchter bzw. Schwestern ihren Lebensunterhalt zunehmend selbst bestreiten mussten. Dazu war eine Ausbildung nötig. Zum anderen gab es gegen Ende des Jahrhunderts eine große Lehrerarbeitslosigkeit, so dass männliche Lehrer in der Mädchenbildung auch neue »Märkte« entdeckten (vgl. Pfister). Eine ähnliche Situation führte zur Gründung der ersten Privaten Töchterschule in Reutlingen. Hier war es ein von der Kirche nicht in den Dienst genommener Theologe, der sich ein anderes Arbeitsfeld suchen musste und so den Reutlinger Mädchen zu einer höheren Bildung verhalf. Dieser Umstand gilt übrigens als Geburtsstunde des heutigen IKGs, dessen Geschichte im folgenden exemplarisch für das Reutlinger Mädchenschulwesen betrachtet werden soll.

Daten zur Reutlinger Mädchenschulgeschichte

  • 1490 erste Erwähnung einer Mädchenschule (Knabenschule 1457) in der Metzgergasse an der Nordwestseite der Kirche, beim Stadtbrand 1726 zerstört; Wiederaufbau am Weibermarkt
  • 1840 wurde die Mädchenschule am Gartentor eingeweiht
  • 1841 Gründung einer höheren Privattöchterschule von F. Kleemann und F. Schippert am Marktplatz 8
  • 1842 Umzug in die Metzgerstraße, dann an den Canzleiplatz
  • 1856 Städtische Töchterschule
  • 1859 Umzug ins Spital
  • 1873 Umzug ins alte Rathaus
  • 1877 wurden die höheren Mädchenschulen »staatlich anerkannte öffentliche Lehranstalten«
  • 1878 1. höhere Mädchenschule
  • 1899 Angleichung der Grundgehalte an die anderer Schultypen
  • 1903 unterstellte man höhere Mädchenschule zusammen mit Gymnasien und Realschulen der »königlichen Kultusministerabteilung für höhere Schulen«
  • 1909 Möglichkeit für‘s Abitur (Jungenschulen: Oberrealschule ab 1876, Gymnasium ab 1886). Allerdings war hierfür der Wechsel an die Jungenschule nötig, bei gleichzeitig starker Benachteiligung der Mädchen: Mädchen mussten sieben Klassen an der höheren Mädchenschule durchlaufen haben, ehe sie in die Oberstufe eintreten konnten, Jungen nur sechs. Mädchen mussten extra eine Aufnahmeprüfung ablegen. Jungen wurden einfach versetzt. Mädchen mussten höheres Schulgeld bezahlen. Mädchen benötigten die Zustimmung der Gemeindekollegien. Diese Diskriminierung wurde erst 1921 aufgehoben.
  • 1896 eigenes Schulgebäude in der Planie 21.
  • 1914 Mädchenrealschule: Die Realschule mit ihren verschiedenen Formen eignete sich nach damaligern Verständnis besonders gut für die Mädchenbildung. Hier konnte eine Verknüpfung von höherer Bildung mit praktischem Wissen hervorragend umgesetzt werden.
  • 1924 konnten Mädchen die mittlere Reife wie Jungen nach sechs Jahren erreichen und danach statt der immer noch fehlenden Oberstufe eine praxisbetonte Frauenklasse (Unterricht: Kochen, Nähen, Pflege des Kleinkinds,...) anschließen.
  • 1931 wurde am späteren IKG zum ersten Mal eine Frau, die Naturwissenschaftlerin Dr. Anna Döttinger, zur Rektorin berufen. Sie war von *1897-1907 selbst Schülerin dieser Schule.
  • 1937 Isolde-Kurz­-Oberschule für Mädchen
  • 1937 Einrichtung einer2-klassigen Oberstufe (hauswirtschaftlicher/sprachlicher Zug)
  • 1940 erstes Abitur
  • 1945 wurde der Schulbetrieb mit 557 Schülerinnen in 18 Klassen wieder aufgenommen.
  • 1953 Isolde-Kurz­-Gymnasium


Literatur

  1. Erdmann, J.E.: Psychologische Briefe. Leipzig, 1852
  2. Haarbusch, Elke: Der Zauberstab der Macht: »Frau bleiben«. Strategien zur Verschleierung von Männerherrschaft und Geschlechterkampf im 19. Jahrhundert. In: Grenzgängerinnen. Hrsg. v. Helga Grubitzsch u.a. Düsseldorf, 1985, 5. 219—255
  3. Hamann, Bruno: Geschichte des Schulwesens, Werden und Wandel der Schule im ideen- und sozialgeschichtlichen Zusammenhang, Bad Heilbrunn/Obb., 1986
  4. Isolde-Kurz-Gymnasium Reutlingen, Festschrift zur Einweihung des Schulneubaus im Juni 1980,Hrsg. Stadtverwaltung Reutlingen, Reutlingen, 1980
  5. Jubiläumsschrift der Jos-Weiß-Schule Reutlingen zu ihrem 100-jährigen Bestehen, Hrsg. Uwe Köster, Reutlingen, 1988
  6. Künzel: Die Schulen in Reutlingen, Reutlingen, 1959
  7. Lila Schwarzbuch: Zur Diskriminierung von Frauen in der Wissenschaft. Hrsg. v. Anne Schlüter und Annette Kuhn. Düsseldorf, 1986
  8. Meißner, Julia: Mehr Stolz, Ihr Frauen! Hedwig Dohm — eine Biographie. Düsseldorf, 1987
  9. Pfister, Gertrud: Die Geschichte der Koedukation. Eine Geschichte des Kampfes um Wissen und Macht. In: Zurück zur Mädchenschule? Hrsg. v. Gertrud Pfister. Pfaffenweiler 1988, 5. 10—40
  10. Reutlinger Amtsblatt (damals »Reutlinger allgemeine Anzeigen«), Reutlingen, 1841