Emilienkrippe

Ein Anliegen des Frauenvereins wurde in die Tat umgesetzt


von Elke Böhmler

Im März 1912 wurde der Reutlinger Frauenverein von 8 Frauen (Frauen von Lehrern, Beamten, Geschäftsleuten und Fabrikanten) gegründet. Den Vorsitz hatte damals die Frau des Oberbürgermeisters Hepp. Die Vereinsfrauen setzten sich zum Ziel, Wohlfahrtseinrichtungen zu gründen und zu fördern, und Frauen und Mädchen Gelegenheit zu geben, sich in den Dienst gemeinnütziger Tätigkeit zu stellen. Als praktische Arbeit nahmen sie sich vor, die Fürsorge für erwerbstätige Frauen und Mädchen und hilfsbedürftige Kinder tatkräftig zu unterstützen. Der Frauenverein hatte Ende 1912 bereits 284 zahlende Mitglieder.

Mit der ständigen Zunahme des Textilgroßgewerbes in Reutlingen gab es für viele Frauen und junge Mütter die Möglichkeit, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Damals war es sicherlich sehr schwierig, für die Kleinkinder während der Arbeitszeit eine geeignete Betreuung zu finden. Ein Kindermädchen konnten sich gerade diese Frauen nicht leisten. Eine Kinderkrippe hätte der Not ein Ende gemacht. Der Frauenverein sah hier seine Aufgabe zu helfen. Die Gründung einer Krippe wurde ins Auge gefasst; arbeitende Frauen sollten dort ihre Kinder in guter Obhut wissen. Ein Recht auf einen Kindergartenplatz für ihre Kinder hatten die Frauen damals ebenso wenig wie wir heute.

Nachdem ein Stifter, das Kommerzienratsehepaar Karl und Emilie Laiblin (Karl Laiblin, Papierfabrikant, ein Nachkomme der Papierfabrikanten aus Pfullingen) für das Haus gefunden war, stellte die Stadtverwaltung das Grundstück einer ehemaligen Winzerschule kostenlos zur Verfügung.

Emilie Laiblin

Hedwig Emilie Laiblin, (1849-1920, Tochter der Luise Fleischhauer, geb. Finckh und des Verlagsbuchhändlers Noah Fleischhauer) - deren Ehe kinderlos geblieben war - setzte sich sehr für die Verwirklichung der Idee des Frauenvereins ein.

Wenn man das Bauwerk betrachtet, fallen einem nicht nur der Schriftzug Emilienkrippe ins Auge - die Kindertagesstätte wurde nach dem Vornamen der Stifterin benannt - sondern auch im Türbogen jeweils rechts und links Kinderfiguren, die anschaulich zeigen, wofür das Gebäude genutzt werden sollte.

Eingangsportal der Emilienkrippe Mauerstraße 46

Das Haus in der Mauerstraße 46 wurde im Juni 1914, also im Jahr des beginnenden I. Weltkrieges eingeweiht. Herr Laiblin übergab dem Frauenverein die Krippe als Geschenk. Nach der Einweihungsfeier wurde im Generalanzeiger folgendes über die Emilienkrippe und ihre Ausstattung geschrieben: Mit großer Freude und Sachkenntnis bewunderten nun all die Hausfrauen und Mütter die geschmackvolle Einrichtung der Innenräume - man sah, überall war der Zweckmäßigkeitsgedanke mit dem einfach Schönen vereint durchgeführt, nirgends ängstlich gespart worden - lobten die wundernetten weißen Bettchen und betrachteten das schöne und praktische Badezimmer, manche fast mit ein wenig Bedauern; so geschickt hatten sie es noch nicht für ihre Kleinen, man ist eben jetzt herrlich weit gekommen in diesen Dingen. Auch unsere weibliche Jugend war besonders entzückt von dem Schlafzimmer der Kleinsten, "ach, da möchte ich gleich Helferin sein" hörte ich hinter mir sagen, während einer der Herren wahrscheinlich angesichts der lieblichen Kinderwärterin - sich noch mal ins Kindesalter zurückwünschte.

Der Frauenverein übernahm die Leitung und die finanziellen Angelegenheiten der Krippe. Zur Betreuung der Kinder wurden Großheppacher Diakonissenschwestern, die in Säuglings- und Kinderpflege ausgebildet waren, eingestellt. Zwei weitere Dienstmädchen halfen bei der übrigen Arbeit im Haus. Die Mahlzeiten für die Kinder und das Personal wurden in der hauseigenen Küche selbst hergestellt.

Jede Mutter, die berufstätig war, konnte einen Krippenplatz für ihr Kind bekommen. Es standen maximal 30 Pflegeplätze zur Verfügung. Die Kinder, Säuglinge und Kleinkinder bis zum 3. Lebensjahr, wurden in der Regel morgens zwischen 6.00 Uhr und 6.30 Uhr von ihren Müttern gebracht und abends um 18 Uhr abgeholt. Die Ganztagesbetreuung umfasste die Kinderpflege (Baden, Anziehen, Schlafen), die Versorgung (Essen) und die Beaufsichtigung (Spiel). Die Kinder wurden von Montag bis Samstag und teilweise auch über Nacht betreut.

Im Haushaltsbuch der Emilienkrippe wurden für die Zeit vom 1.7.-15.7.1914 Einnahmen über das Pflegegeld für die Krippenkinder in Höhe von 43,45 RM verzeichnet. Dem standen Ausgaben in Höhe von 134 RM gegenüber. Hieraus wird ersichtlich, dass die Emilienkrippe auf Spenden angewiesen war. Der Frauenverein organisierte deshalb häufig Bazare, Konzerte und andere Wohltätigkeitsveranstaltungen, um den Haushalt der Krippe aufzubessern. Besonders zu erwähnen ist die großzügige finanzielle Unterstützung, welche die Einrichtung durch Frau Laiblin bis zu deren Tod erfahren hat.

Gemeinderatsprotokollen ist zu entnehmen, dass die Krippe nach Wegfall dieser Zuwendungen in große finanzielle Bedrängnis geriet. Um den Etat aufzubessern, wurden Säuglingspflegekurse abgehalten. H" konnten die Schülerinnen der städtischen Koch- und Haushaltungsschule und der Mädchenrealschule theoretischen und praktischen Unterricht erhalten. Ebenso wurden Räume für Turnunterricht vermietet.

In den folgenden Jahren wurde es für den Frauenverein immer schwieriger, die finanziellen Mittel für den Betrieb der Krippe selbst aufzubringen. Es wurden dadurch, auch bedingt durch die allmählich fortschreitende Geldentwertung, Zuschüsse von der Stadt notwendig. Diese wurden auch gewährt mit der Begründung: "... angesichts dieser außerordentlich segensreich wirkenden gemeinnützigen Einrichtung, die schon häufig ein Eintreten der öffentlichen Fürsorge überflüssig gemacht habe,....."

Für die Ganztagesbetreuung musste im Jahr 1924 ein Betrag von 35 Pfennig aufgebracht werden, 50 Pfennig für Tag und Nacht (zum Vergleich: l L Milch kostete 26 Pfennig).

Im Jahr 1938 übernahm die Ortsfürsorgebehörde die Verwaltung und den Betrieb der Emilienkrippe. Der Frauenverein war nicht mehr in der Lage, die Krippe selbständig weiterzuführen.In der damaligen Vereinbarung zwischen der Ortsfürsorgebehörde und der Vorsitzenden des Frauenvereins, Klara Döttinger, wurde unter anderem folgendes festgelegt:

Der Frauenverein bleibt weiterhin Eigentümer des Grundstücks. Die Einrichtung behält zu Ehren der Stifter den Namen "Emilienkrippe".

Der Frauenverein hat das Recht, die seither genutzten Räume (Sitzungszimmer) weiterhin zu benützen. Hier traf sich auch der Verein für weibliche Angestellte. Der Frauenverein wird sich bemühen, Beiträge in seitheriger Höhe (140 RM) aufzubringen und dem Betrieb der Emilienkrippe zuzuschießen. Er wird bei allen wesentlichen Veränderungen im Bestand und Betrieb der Krippe beratend gehört, vor allem bei Neueinstellung von Schwestern, Fortsetzung deren Entlohnung, bei Festsetzung des Verpflegungsgeldes usw.

Im Jahre 1942 löste sich der Frauenverein auf und die Emilienkrippe ging in den Besitz der Stadt über.

Das vorerst endgültige "Aus" für die Emilienkrippe kam 1976. Grund für die Schließung sei der überdurchschnittlich kostenintensive Betrieb der Tagesstätte mit ihren 34 Plätzen und die räumlichen Unzulänglichkeiten.

Seit 1991 überlegt man auch im Gemeinderat, ob die Emilienkrippe nicht wieder als Kindertagheim genutzt werden kann. Im Reutlinger Generalanzeiger wurde 1992 berichtet, dass die Emilienkrippe in absehbarer Zeit wieder Kindertagesstätte werden soll. In einem Bericht der Südwestpresse vom April 1994 war unter dem Titel " 's Emile" wird größer, zu entnehmen, dass der Gemeinderat endgültig beschlossen hat, die Emilienkrippe wieder als Tagheim herzurichten. Die Kosten für den Umbau der Einrichtung und der Außenanlagen werden mit 1,3 Millionen veranschlagt. Dass ein Bedarf an Tagheimplätzen besteht, ist kein Geheimnis; 45 Kinder sind bereits auf der städtischen Warteliste vorgemerkt.

Quellen

  1. Amtsgericht Reutlingen: Vereinsregister
  2. Berichte von Zeitzeuginnen
  3. Deutsches Geschlechterbuch (Genealogisches Handbuch bürgerlicher Familien) Band 34
  4. Reutlinger Generalanzeiger: Ausgaben von 1912, 1914, 1920, 1933, 1976, 1991, 1992
  5. Schöllkopf H.: Reutlinger Chronik 1935-1939
  6. Stadt Pfullingen: Gedenkblätter zum hundertjährigen Jubiläum der Papierfabrik Gebrüder Laiblin in Pfullingen
  7. Stadtarchiv Reutlingen: Gemeinderatsprotokolle von 1920, 1921, 1922, Stadtpflege, Prov. Nr.91, Photosammlung S 100 Nr. 10.974/28-30
  8. Südwestpresse: Ausgabe vom 26.4.1994 Photo "Eingangsportal", Böhmler