Hexen

Verfolgung und Mord


von Annette Bach

Im 14. und 15. Jahrhundert standen in Reutlingen, eingebunden in die Stadtmauer, noch 3 Haupt-Tore: das Metmannstor (auch Tübinger Tor genannt), das Untere Tor und das Obere Tor. Dieses Obere Tor wurde als Kerker für die Personen genutzt, die der Hexerei beschuldigt waren. Der Turm befand sich an der Stelle des heutigen Albtorplatzes und ist in etwa mit dem Gartentor vergleichbar.

Das Gartentor von der Gartenstraße aus gesehen (1906)
aus: "Alt-Reutlingen. Bilder einer Schwäbischen Stadt", Metz- Verlag, 1989, S. 101

Hexenprozesse fanden in Europa in der Zeit vom 14. bis 18. Jahrhundert statt. Bemerkenswert daran ist, dass es sich also nicht um eine Sache des "finsteren Mittelalters" handelte, sondern in die Zeit fiel, die als Zeitalter des Humanismus und der Renaissance, in die Geschichte einging. Wir finden in den Standardwerken zur Geschichte über diese immerhin Jahrhunderte andauernde Frauenvernichtung (denn hauptsächlich waren es Frauen, die als Hexen denunziert und verurteilt wurden) nur sehr spärliches Material. Für mindestens 100,000 Morde gibt es noch schriftliche Nachweise. Schätzungen gehen aber davon aus, dass es sich eher um Millionen gehandelt hat. Die letzte nachweislich ermordete Frau war Anna Göldin, 1782, Schweiz.

Die Ursachen der Hexenverfolgung sind zahlreich. Es sollen an dieser Stelle nur einige Punkte erwähnt werden, die dabei eine Rolle gespielt haben:

  1. Die Kirche:
    Bereits im 4. Jahrhundert unserer Zeitrechnung wurde das Christentum offizielle Staatsreligion. Das bedeutete, dass die Kirche eine enorme wirtschaftliche und politische Macht ausübte. Tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen, wie z.B. die Entwicklung des Handels und die damit verbundene Entstehung von Städten, führten für die christliche Kirche zu massiven Problemen: ihre Rolle als weltliche Institution war mehr und mehr bedroht. Darüber hinaus widersprach genau diese Funktion der Kirche als Wirtschaftsmacht ihrem anderen Anspruch, nämlich: eine unabhängige moralische Institution zu sein. Zahlreiche sozialreligiöse Oppositionsgruppen bildeten sich, was die Kirche in eine schwere Legitimationskrise stürzte. Reaktion: Andersdenkende bzw. Andersgläubige wurden zum Anlass der Institutionalisierung einer "Ersten planmäßig arbeitenden Polizei der Neuzeit". (1) Die"heilige Inquisition" war das formale Instrument, mit dem gegen die angeblichen Feinde der Kirche (Ketzer) vorgegangen wurde. Dieses kirchliche Gericht ermöglichte Prozesse, die mit dem staatlichen Rechtssystem nichts zu tun hatten. Zur Verhaftung genügte es, wenn die entsprechende Person denunziert wurde. Unter der Folter lieferten die Beschuldigten die gewünschten Geständnisse, die dann, vor allem im Zusammenhang mit den nach demselben Schema ablaufenden Hexenprozessen, zur Ermordung der Angeklagten führte. Verteidiger waren verboten. Zeugen gab es nur gegen die Beschuldigten. Der Hexenwahn war in katholischen und evangelischen Gebieten gleich. (Nur in griechisch-orthodoxen und islamischen Ländern gab es dieses Phänomen nicht.)
  2. Das kirchliche Frauenbild:
    Im Gegensatz zu den vorpatriarchalen Religionen, die ja in der Regel Göttinnenreligionen waren und die Frau, als Leben weitergebendes Wesen hoch achteten, betrachtete die christliche Kirche Frauen mehr und mehr als die Verkörperung der Sünde und Verwerflichkeit. Zur Verdeutlichung hier eine kurze Passage aus dem berühmt-berüchtigten "Hexenhammer", der 1487 erschienen war. Verfasser waren die Mönche Heinrich Institoris und Jakob Sprenger. Dem Werk voran ging eine Bulle des Papstes Innozenz VIII. , der praktisch den "Startschuss" zur Hexenverfolgung gab:
    "Was ist das Weib anders als die Feindin der Freundschaft, eine unentrinnbare Strafe, ein notwendiges Übel,... Ein schönes und zuchtloses Weib ist wie ein goldener Reif in der Nase der Sau. Der Grund ist ein von der Natur entnommener: weil es fleischlicher gesinnt ist als der Mann, wie aus den vielen fleischlichen Unflatereien ersichtlich ist. ... Also schlecht ist das Weib von Natur, da es schneller am Glauben zweifelt, auch schneller den Glauben ableugnet, was die Grundlage für die Hexerei ist... "(2)
  3. Heilkunde:
    Heilen war seit Urzeiten die Domäne der Frauen. Die sogenannten "weisen Frauen" befanden sich überdurchschnittlich oft unter den Opfern des Hexenwahnsinns.
  4. Persönliche Bereicherung:
    Das Vermögen und der Besitz der Ketzer, wie auch der angeklagten Hexen und Hexer fiel der weltlichen und geistlichen Obrigkeit zu. Dies führte dazu, dass z.B. reiche Witwen oder alleinlebende Frauen immer einer besonderen Gefahr ausgesetzt waren. Für Männer galt das vor allem dann, wenn sie in Positionen saßen, auf die jemand anderer spekulierte (wie z.B. in Reutlingen geschehen).

Die Hexenprozesse in Reutlingen
Zeitraum: 1565-1667 = 102 Jahre Insgesamt wurden 64 Menschen nachweislich ermordet. Angeklagt waren 93 Personen, 78 Frauen und 15 Männer. Darüber hinaus lassen sich aus den Prozessakten noch Personen feststellen, über deren Verfahren keine Protokolle mehr vorhanden sind. Beim Durchblättern der Akten ist mir aufgefallen, dass sehr viele Witwen unter den Beschuldigten waren. Ein paar Beispiele aus dem Jahr 1665 (einer der Höhepunkte der Hexenverfolgung in Reutlingen) sollen verdeutlichen, welche Frauen unter welche Anklage gestellt waren:

  1. Maria, Hausfrau des Apsolon Möhrstetter; sie hat sich bei der Geburtshilfe "verdächtig" gemacht; außerdem eine Kuh zu Tode gebracht.
  2. Apolonia, Hausfrau des Georg Lumpp; hat ganz allgemein Mensch und Tier "Schaden getan"; außerdem war sie daran beteiligt, dass ein Kind zu Tode kam.
  3. Margaretha, Witib des Jacob Weinmann; ihr wird ein Giftmord vorgeworfen.
  4. Maria, Witib des Johannes Stirm; der Hurerei angeklagt
  5. Barbara, Witib des Georg Jos; 8 Verhaftete geben an, sie auf Hexenzusammenkünften gesehen zu haben.
Der Großinquisitor Thomas de Torquemada
Foto: Ausstellungskatalog "Hexen", S. 38

Die Beschuldigung durch andere Verhaftete ist zu diesem Zeitpunkt offensichtlich bereits das brauchbarste Instrument der "Überführung ", denn bei allen o.g. sind es immer wieder mehrere solcher "Zeuginnen", die gegen die angebliche Hexe aussagen.(Die Anklage sexueller Ausschweifungen, die zu Beginn der durch Protokolle aufgezeichneten Verhandlungen noch eine dominante Rolle spielte, trat jetzt in den Hintergrund.)(Eine Beschuldigung wie "gemeines Geschrei", was soviel bedeutet wie tratschen, vielleicht auch andere beschimpfen (im Sinne des Gassensitzens?) taucht dagegen jetzt fast immer auf). Hierzu ein Zitat aus dem Protokoll von o.g. Barbara, die "die Chron" genannt wurde:

"Hierbei ist zu wissen, dass die Chron vor einem Jahr auf genügsame vordringliche und obige Indizien verhaftet, gütlich und peinlich examiniert wurde, die Tortur aber halsstarrig überstand..." Sie wurde dann entlassen und bekam zur Auflage: "dass sie sich ein Jahr im Haus aufhalten, sich still und eingezogen erzeigen solle".... Das tat sie aber nicht, sondern sie hat weiter "ihre Nachbarn beschmäht und ihren vorigen gottlosen Lebenswandel wieder angefangen" (d.h. volltrinken, fluchen und schmähen). Eng mit der Hexenvernichtung verknüpft ist der Name des ehemaligen Bürgermeisters der Stadt Reutlingen: Johann Philipp Laubenberger. Laubenberger war von 1665-1683 im Amt. Während der ersten 2 Jahre seiner Dienstzeit wurden 16 Bürgerinnen wegen Hexerei hingerichtet. Bezogen auf die damalige Einwohnerzahl und verglichen mit heute wären das jetzt ca. 400 Menschen, die in diesem Zeitraum ermordet worden wären. Laubenberger muss ein ziemlich skrupelloser Hexenverfolger gewesen sein. Zum einen kam er zu seinem Amt des Bürgermeisters nur, indem er dafür sorgte, dass die Frau seines schärfsten Konkurrenten, des Apothekers Efferen, denunziert wurde. Sie floh nach Tübingen. Um eine Auslieferung nach Reutlingen zu verhindern, legte der Apotheker sein Bürgerrecht nieder und machte so den Weg frei für Laubenberger. Zum anderen war einer der Höhepunkte der Prozesse a) 1660, im Jahr als Laubenberger zum ersten Mal Richter war und b) 1665, im Jahr seines Amtseintritts, wobei dieses Jahr auch als der absolute Höhepunkt des Hexenwahns in Reutlingen überhaupt genannt wird. An Laubenberger wird deutlich, was unter Punkt 4. im Zusammenhang mit den Ursachen der Hexenverfolgung genannt wurde: l. Karriere/Aneignung von Ämtern etc.; 2.Beseitigung unliebsamer Personen/Rivalen; 3. Bereicherung an fremdem Hab und Gut.

Drei weitere Höhepunkte fand ich in der Literatur noch genannt: 1565 - im Jahr des großen Frostes; 1592 - nach dem verheerenden Stadtbrand; 1633 -Reutlingen ist seit l Jahr am 30jährigen Krieg beteiligt. Das heißt, auch wenn Ereignisse auftraten, deren Ursachen auf Anhieb nicht zu erklären waren, wurden "teuflische Machenschaften" und damit Hexen beschuldigt und zur Verantwortung gezogen. Der Hexenwahn endete im 18. Jahrhundert. Das heißt, dass es ab da keine offiziellen und nachweisbaren Prozesse und Verbrennungen mehr gab. Die sozialen und politischen Umwälzungen des 18. und 19. Jahrhunderts machten diese Art von drastischem und ganz offenem Frauenhass allmählich unmöglich. Latent aber schwelte das frauenverachtende Bild unter der Oberfläche weiter und lediglich die Form der Repression änderte sich. Und heute?

Anmerkungen:
(1) Honegger, C.: "Die Hexen der Neuzeit", S. 43
(2) Sprenger, Jakob und Institoris, Heinrich: "Der Hexenhammer (Malleus maleficarum)", Erstdruck 1487
Literatur/Quellen

  1. Becker, Bovenschen, Bracken, u.a.: "Aus der Zeit der Verzweiflung. Zur Genese und Aktualität des Hexenbildes", suhrcamp 840, 1977
  2. Hasler, Eveline: Anna Göldin. Letzte Hexe, dtv 10457, 1990
  3. "Hexen", Katalog zur Ausstellung im Hamburgischen Museum für Völkerkunde, 1979
  4. Hexenprozesse in Reutlingen. Prozessakten aus dem Bestand Reichsstädtischer Urkunden und Akten, Stadtarchiv Reutlingen
  5. Honegger, Claudia (Hrsg.): "Die Hexen der Neuzeit. Studien zur Sozialgeschichte eines kulturellen Deutungsmusters", suhrcamp 743, 1978
  6. Labouvie, Eva: "Zauberei und Hexenwerk", Fischer 10493.1991
  7. Schenker, Gabriele: "Die Hexenprozesse in Reutlingen im 16. und 17. Jahrhundert", 1971
  8. Sprenger, Jakob und Institoris, Heinrich: "Der Hexenhammer (Malleus maleficarum)", Erstdruck 1487
  9. Wisselinck, Erika: "Hexen", Frauenoffensive 1986